Winterthur

Live: Leprous, Salzhaus Winterthur, 17-11-15

Leprous
Support: Agent Fresco, Alithia, Astrosaur
Mittwoch 15. November 2017
Salzhaus, Winterthur

Irgendwie erinnerte mich dieser Abend an vergangene Zeiten, in denen unregelmässig ein Wanderzirkus im Dorf Halt machte und für einen Abend die Bewohner mit Artisten und Wundern verzauberte. Da die Jahre aber nicht ohne Veränderung vonstatten gingen und sich einiges modernisiert hat, musste man an diesem Mittwochabend aber nicht in einem Stoffzelt frieren, sondern durfte im Salzhaus schwitzen. Und anstelle glatzköpfiger Gewichtheber und verstörenden Clowns gab es auf der Bühne eine Vielzahl an talentierten und von weit her angereisten Musikern zu bestaunen. Leprous, die neue Progressive Metal-Sensation aus Norwegen, lud zu einer Nacht voller Klang und Spass.

Denn wer schon auf eine auslaugende Tour geht, der kann auch ein paar Freunde mitreisen lassen. Gleich vier Bands durften darum in Winterthur bejubelt werden und machten aus einem normalen Wochentag ein kleines Festival-Erlebnis – und gaben nur eine Konstante vor: Ausufern mit Freunden. Denn egal ob Heavy-Stoner-Riffs oder elegische Keyboard-Parts, bei jedem Auftritt galt es, die Konventionen zu sprengen und den modernen Metal neu zu erfinden. Astrosaur aus Norwegen bildeten mit ihrem geerdeten und tonnenschweren Sound zu Beginn Gelegenheit, sich mental und körperlich auf diese Klangreise vorzubereiten. Irgendwo zwischen Heavy-Prog-Stoner, Post-Metal und dreckigem Rock landeten ihre Songs mit lautem Knall im Saal.

Alithia aus Australien versuchten einen komplett anderen Ansatz und stürmten zu siebt und mit Gastsängerin Marjana Semkina von iamthemorning die neu stützenlose Bühne. Genauso wild wie die Bewegungen und Sprünge der Musiker waren auch die Lieder. Ob Heavy Metal mit sehr emotionalem Gesang oder wildeste Perkussionsgewitter und Powerriffing – diese Band will weder ihre Songs noch ihre Auftritte auf einen bestimmten Stil festnageln. Das kam unerwartet, stiess manche etwas vor den Kopf, war aber umso lockerer und witzig. Erstaunlich, wie viel Bewegung in solchen Konzerten Platz finden kann.

Das muss man Sänger Arnór Dan Arnarson von Agent Fresco schon lange nicht mehr erzählen, schreitete der Frontmann doch während dem Konzert rastlos über die Bühne, bediente den Synthie und spazierte kurzerhand mitten in den Besuchern herum. All dies, während er seine Gesangmelodien voller Inbrunst präsentierte und sich immer wieder von den zwei weiteren Musikern abhob. Erstaunlich wie hochkomplex und mathematisch die Songs der Isländer sind, aber trotzdem so locker gespielt werden können und mitreissen. Ausnahmsweise mit Nicolai Mogensen von Vola am Bass, präsentierten die Herren nicht nur Stücke von den Alben, sondern auch komplett neues Material und hinterliessen bei den Besuchern wahre Begeisterungsstürme.

Da war es für die Leithammel und Hauptband Leprous natürlich ein leichtes, den Abschluss mit ihrem Progressive Metal zu einem Feuerwerk zu gestalten. Unterwegs mit ihrem neusten Album „Malina“ und dem Cellisten Raphael Weinroth-Browne, der alle Streicherarrangements live und beeindruckend einspielte, liess die Bands Kracher wie „The Flood“, „Rewind“ oder „Illuminate“ vom Stapel. Mit toller Lichtshow und begleitenden Videos wurde aus dem Konzert schnell eine Reise in die verzweigten Höhlen des modernen Prog, angereichert mit der ergreifenden Stimme Einar Solbergs und immer wieder brachialen Riffs. Da war es nur recht, kehrten die Mannen nach „From The Flame“ noch einmal auf die Bühne zurück und liessen diesen abenteuerlichen Abend mit „The Valley“ ausklingen. Wer vermisste da noch Trapezkünstler und Tiger?

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Live: Swans, Salzhaus Winterthur, 17-10-19

Swans
Support: Baby Dee
Donnerstag 19. Oktober 2017
Salzhaus, Winterthur

„One Sunny Judgement Day / I lost Track Of Time“, sang Baby Dee und traf den Kern dieses Abends bereits sehr früh mit wenigen Worten. Die Sängerin aus Amerika durfte mit mit ihrer Begleitung die Besucher darauf einstimmen, dass dieses Konzert alle Normen des Alltags sprengen würde. Ihre Lieder schwankten zwischen räuberischen Erzählungen und gruseligen Märchen, immer theatralisch dargeboten und so krumm, wie die Planken der alten Piratenschiffe. Mit Handorgel verstärkt, erstaunlich bissig und am Ende sogar politisch – diese Künstlerin bewegt sich in herrlichen Kreisen, war mehr Schauspielerin als Sängerin und verwandelte das Salzhaus in eine angenehme Geisterbahn.

Perfekt, dass die Urgewalt aus den amerikanischen Staaten, die lauteste Noise-Rock-Gruppe, die Legende des ehemaligen No Wave aus New York danach für den Rest des Abends einen erschütternden Exorzismus in Winterthur durchführten. Swans, das Kollektiv unter der Leitung des Saitenteufels Michael Gira, tourt noch ein letztes Mal in der aktuellen Form durch Europa, bevor sich die Band danach in eine ungewisse und neuartige Zukunft bewegen wird. Nicht wenige nutzten darum die Gelegenheit, sich dieses Live-Erlebnis zu gönnen. So fand man im endlich säulenlosen Saal Schamanen, die bereits nach wenigen Takten des eröffnenden Monsters „The Knot“ in anderen Sphären schwebten und Neulinge, die zuerst die wahnsinnige Lautstärke verdauen mussten.

Das Schild beim Eingang lügte nicht mit der Aussage „Swans Play Loud. Very Loud.“ – hier wurden Trommelfell, Extremitäten und Innereien zugleich bearbeitet. „The Knot“ baute sich während 50 Minuten kontinuierlich auf, Gira liess seine Mannen Wellen aus Gitarrenfeedback, Bassgewummer, Keyboard und Schlagzeug auf die Zuschauer losfeuern und füllte die leiseren Stellen mit seinen Mantragesängen. Eine Gruppe wie Swans live zu sehen bedeutet nicht, die feinfühlige Reproduktion von Studioaufnahmen zu betrachten. Hier ging es um die drastische Dekonstruktion von Konventionen, Formatzwängen und Wohlklang. Jaulende Riffs, tribalistische Rhythmen und schier endlose Repetitionen – ob „The Man Who Refused To Be Unhappy“ oder „Cloud Of Unknowing“, Stücke des aktuellen Albums „The Glowing Man“ und neue Kreationen wurden zu Lebenserfahrungen.

Schnell fühlte man sich in den unerbittlichen, sonischen Attacken befreit, liess Empfindungen von den Druckwellen leiten und fühlte, wie sich das Gehirn langsam auflöste. Ein Konzert von Swans zu beschreiben ist fast so unmöglich, wie das Wirken von Godspeed You! Black Emperor oder ähnlichen Urkräften in Worte zu fassen. Trotzdem ist es genau aus diesem Grund wichtig, dass man nie vergisst, wie heftig Musik einen Menschen treffen kann. Wer selber im Salzhaus nicht dabei war, der hat zwar diese eine Läuterung verpasst, darf aber auf eine neue Inkarnation dieses genialen Kollektivs hoffen. Die Welt wäre ohne die Swans zwar um einiges leiser, aber auch leerer und unausgewogen. Lang leben die Könige der extremen Gitarrenmusik.

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Live: Winterthurer Musikfestwochen, Steinberggasse Winterthur, 17-08-19

42. Winterthurer Musikfestwochen
Bands: FeistGlen HansardAndy Shauf
Samstag 19. August 2017
Steinberggasse, Winterthur

Die Musikfestwochen in Winterthur sind nicht nur jedes Jahr für Überraschungen gut, die letzten drei Abende in der Steinberggasse weisen auch jedes Jahr eine komplett andere Stimmung auf. So stand der Samstag in dieser 42. Ausgabe für zauberhafte Musik und kleine Gefühle im Grossformat. Der einzelne Musiker und die alleinige Künstlerin wurden während drei Konzerten zelebriert und die Sommernacht versank in einer wunderschönen und fast andächtigen Stimmung – wunderbar beleuchtet mit tollen Lichterketten, weit über den Köpfen der Besucher.

Wobei es nicht ganz fair ist, diese drei Acts auf ihre Frontleute zu reduzieren. Denn Andy Shauf aus Kanada ist zwar Multiinstrumentalist und ein zarter Songwriter, an diesem Samstagabend liess er sich aber von einer Band begleiten. Der hübsche Indie-Folk war also nicht nur zerbrechliche Stimme und akustische Gitarre, sondern auch Schlagzeug und Bass, Orgel und zwei Klarinetten. Shauf führte seine Band sicher durch die oft etwas unscheinbaren Stücke und hielt auch die Interaktion mit den Besuchern auf einem Minimum. Diese Art von Musik ist für einen Festival-Gig nicht immer geeignet, hier in Winterthur hat es aber toll geklappt.

Was nicht immer selbstverständlich ist, werden die Gruppen vor dem eigentlichen Hauptstar auch gerne etwas ignoriert. Nicht so aber in der Steinberggasse, die Leute waren von Anfang an bereit, leise der Musik zuzuhören und immer wieder mitzuklatschen und zu singen. Das freute die Indie-Pop-Künstlerin Feist, ebenfalls aus Kanada stammend, schon vor ihrem Auftritt – und natürlich liess sie darum die Leute immer wieder mitmachen. Das sorgte, nebst der wunderbar quirligen Art der Musikerin und der wirklich stark aufspielenden Band, immer wieder für humorvolle und freudenstrahlende Momente.

Wobei das Konzert besonders gegen Ende dann seine wahre Kraft entfalten konnte und die Leute bei Hits wie „Sea Lion Woman“ oder „Let It Die“ in völligen Jubel ausbrachen. Das Konzert mit der kompletten Darbietung ihres neusten Albums „Pleasure“ zu beginnen war nämlich etwas gewagt, Feist hatte aber auch damit gewonnen. Wobei es, zumindest aus meiner Sicht, nicht ganz für das Highlight an diesem Abend gereicht hatte. Diese Leistung hat nämlich der irische Musiker Glen Hansard für sich verbuchen können.

Nach vier Jahren endlich wieder auf dieser Bühne in Winterthur und nur mit einer Akustikgitarre und einem Klavier bewaffnet, wurde seine Darbietung zu einer Achterbahnfahrt der Gefühle und intensiver Gedanken. Seine Folk-Stücke wurden in diesem reduzierten Singer-Songwriter-Gewand zu strahlenden Diamanten; mit seiner druckvollen Stimme zauberte Hansard bei jedem Besucher Gänsehaut herbei. Er zeigte sich als emphatische Figur, kommentierte die aktuelle politische Lage und machte aus allen Besuchern eine grosse Familie. Und genau wegen diesen Erlebnissen sind die Winterthurer Musikfestwochen einfach einzigartig und hallen noch lange im Herzen nach.

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

 

Live: Spidergawd, Gaswerk Winterthur, 17-03-25

Spidergawd
Support: Woodland
Samstag 25. März 2017
Gaswerk, Winterthur

Auf der Hinfahrt wurde im Auto noch fleissig diskutiert, welche andere Band einen solch konstanten und immer noch besser werdenden Output hat, wie die Jungs. Ein Vergleich fiel uns nicht ein, höchstens vielleicht Steven Wilson, spielt aber auch keine Rolle – denn Spidergawd haben sich mit ihrem vierten Album „IV“ langsam von Motorpsycho emanzipiert. Die vier Herren aus Trondheim stehen seit 2013 für gnaden- und schnörkellosen Rock. Und servierten diesen in Winterthur gleich mit der Baggerschaufel.

Von dem ersten Gitarrenklang bis hin zur letzten Schwingung der Becken am Schlagzeug gilt bei Spidergawd nur eines: Schweisstreibende, laute und schnelle Musik. Heavy Rock mit Saxophon, Gitarrensolo mit wilden Drumwirbeln, Bassläufe über psychedelische Instrumentalpassagen. Die Band springt von knackigen und stark groovenden Hits wie „Get Physical“ zu ausufernden Longtracks wie „The Lighthouse“, ohne mit der Wimper zu zucken. Kein Wunder, war das Publikum im Gaswerk völlig aus dem Häuschen und jubelte fast lauter, als die Band spielte.

Haare schwingen, Fäuste recken, Textzeilen mitschreien – Leidenschaft fand man auf beiden Seiten der Bühne. Und bei einer Band, bei der sogar Liebeslieder wie „Is This Love?“ mit 300 Sachen über die Strassen rasen, gibt es schliesslich nur die totale Hingebung. „The Inevitable“ – eigentlich ein passender Titel für eine energiereiche Nacht mit Spidergawd – welche alle von der Klangwucht betrunken aus dem Saal entliess.

Woodland brachten diese Urgewalt nicht ganz hin, was aber auch nicht zu erwarten war. Aber trotzdem, die junge Gruppe aus Norwegen gab alles und stellte ihr erstes Album mit viel Leidenschaft den Besuchern vor. Die kecke Mischung aus Delta Blues und wildem Rock vermengte sich zu wunderbaren Brettern. Nebst den Gitarren durften auch noch ein Keyboard und der Kontrabass Akzente setzen – und Woodland bewiesen, dass der Kosmos um Spidergawd immer grösser wird. Schliesslich stand Bassist Hallvard Gaardløs an diesem Abend gleich zwei Mal auf der Bühne – und half dabei mehr Holz zu verarbeiten, als manches Sägewerk.

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Live: New Model Army, Salzhaus Winterthur, 16-10-24

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New Model Army
Support: Neo Noire
Montag 24. Oktober 2016
Salzhaus, Winterthur

Spätestens wenn man direkt in Justins Sullivan Augen schaut und die Intensität und Absichten spürt dann weiss man, dieser Konzertabend ist nicht wie jeder andere – New Model Army sind aber auch keine Band wie eine zweite. Somit war es endlich wieder nötig und schön zu erleben, dass die Koryphäe aus England für drei Auftritte in die Schweiz zurück kehrte. Mit im Gepäck das neuste Album „Winter“ und nebst ihrer unglaublich mitreissenden Songs auch einige Überraschungen. Winterthur mag eine längere Anreise entfernt sein, für solche Stunden lohnt sich aber jede Strapaze.

Der Abend im Salzhaus begann aber mit frischem Wind, denn die Existenz von Neo Noire aus Basel lässt sich noch fast in Stunden beschreiben. Nach vielen Begegnungen und Konzerten gründeten nämlich die bekannten Gesichtern Fredy Rotter und Thomas Baumgarnter mit Franky Kalwies und David Burger eine neue Truppe. Und deren Musik klingt nicht nur nach vieler Erfahrung, sondern hat mächtig Druck. Sie spielten Haare schwingend lange Rock-Stücke mit Stoner-Elementen und tollen Breaks. Rotters hohe Stimme gab den passenden Kontrast zum lauten Klang, sogar der Grossvater Blues durfte mitschwingen.

Erdiger und direkter präsentierten sich New Model Army. Auch über 35 Jahre nach der Gründung steht die Band immer noch wie ein Monolith in der Landschaft und weiss mit ihrer intelligenten Musik für Entzückung zu sorgen. Egal ob man die Musiker seit Jahrzehnten auf ihrem Weg begleitet oder als kompletter Novize in Winterthur landete, der Auftritt machte aus Unbekannten beste Freunde und aus Unwissenden begeisterte Anhänger. Lieder wie „51st State“ oder „Angry Planet“ erklangen voller Emotionen und Protest, das Publikum gab sich der Gruppe hin und von der ersten Sekunde an tobte ein Pogo-Kreis im Salzhaus. Diese ansteckende Stimmung sorgte auch auf der Bühne für Freude – trotz der störenden Pfeiler, welche die Musiker voneinander trennten.

Doch Profis wie New Model Army liessen sich davon nicht stören und warfen mit Violinistin Shir-Ran Yinon einen wunderbaren Gast in die Meute. Ihre Melodien trafen sich mit der Gitarre und Keyboard, die Perkussion unterstütze die saftigen Trommelein und vermengte alles mit einem Überraschungselement. Die ureigene Musik der Gruppe bliebt während jeder Sekunde aufregend und perfekt dargeboten, „Winter“ hielt auf beste Art und Weise Einzug. Mitsingen, mittanzen, mitdenken. Solange es Bands gibt, die sozialen Anspruch und wilden Post-Punk Wave so mächtig verbinden, ist unsere Welt doch nicht ganz verloren.

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

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Media Monday #255

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Dieses Pfingstwochenende hatte es in sich, und die Tage davor auch. Fünf Konzerte in einer Woche sind doch etwas viel, aber ein wenig Platz für Film und TV blieb trotzdem. Die Vorlage stammt wie immer vom Medienjournal.

1. So ein langes Pfingstwochenende verleitet ja regelrecht dazu viel zu unternehmen und viel Zeit im Wohnzimmer zu verbringen. Denn wie meist, war es auch dieses Jahr eher regnerisch. Darum hab ich die Gelegenheit genützt um bei einem Freund zu Hause die VR-Brille für sein Smartphone auszuprobieren. Eine ganz unterhaltsame Sache, wenn auch das Angebot an Videos und „Spiele“ noch sehr klein ist.

2. Das Abendessen verwechsle ich ja gerne mal mit ein paar Flaschen Bier, an solchen Wochenenden. Besonders wenn man jeden Abend mit Freunden an ein Konzert geht. Wunderbar daran ist aber, dass man sich dann auch mal ein Essen nach dem Ausgang kocht. Zum Beispiel gleicht mit fünf Gästen in der eigenen Wohnung, und dazu leidenschaftlich über Musik spricht. Bis drei Uhr Nachts.

3. Am Samstag war GraticComicTag, die FedCon läuft dieser Tage auch noch. Mir persönlich war beides egal. Ich schaue weder Star Trek, noch mag ich Comics in deutscher Übersetzung lesen. Beim amerikanischen Pendant bin ich aber bestimmt wieder in einem Shop anzutreffen.

4. Wenn es „Chelsea“ nicht gäbe, ich würde wohl mein Leben genau so fortführen wie mit dem Angebot dieser neuen Talkshow auf Netflix. Sicherlich, die Dame ist ja ganz ok und auch immer mal interessant, doch das Konzept hinter der Sendung begreife ich noch nicht wirklich. Und drei neue Folgen pro Woche? Da wird sich doch schnell eine Übersättigung einstellen.

5. ESC-Twittern, Tatort-Twittern, dieses ganze kollektive Fernsehen war mir bis jetzt komplett unbekannt. In meinem Wohnzimmer steht zwar ein TV, der wird aber nur für Bluray und Netflix benutzt. All diese Schrottsender empfange ich nicht, auf den sozialen Netzwerken treibe ich mich nicht herum. Lieber mit echten Menschen ab und zu über Filme, Serien und das Leben diskutieren.

6. Leute, kennt ihr eigentlich eine tolle Alternative zu dem iPod Classic? Solltet ihr nämlich unbedingt, schließlich gibt mein liebstes Gerät so langsam den Geist auf und ich will doch nicht ein iPod Touch mit nur 64GB kaufen. Das reicht ja knapp für alles von U2, Ellie Goulding und Marillion. Und gibt es ein Spieler, der die Dateien von iTunes abspielen kann?

7. Zuletzt habe ich das Technorama in Winterthur besucht und das war aufregend, spannend und unterhaltsam, weil man in diesem Wissenschafts-Zentrum hunderte von Experimente selber durchführen kann. Die Welt der Physik, Chemie, Biologie und Technik wird einem somit greifbar gemacht und auf wundersame Weise erklärt.

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Total Records – Vinyl & Fotografie / Winterthur

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Total Records – Vinyl & Fotografie
Fotomuseum, Winterthur
Ausstellung noch bis 16. Mai 2016

Vinyl breitet sich aus, immer mehr und vor allem stärker in den Massenmarkt und die Modekultur. Somit ist es nicht verwunderlich, dass sich viele von diesem tollen Kuchen ein leckeres Stück abschneiden wollen. Sei es mit Büchern, Publikationen, Designobjekten oder halt eben Ausstellungen. Im Fotomuseum in Winterthur (Schweiz) beschränkt man sich aber auf den optischen Aspekt der Covergestaltung. Bietet sich ja auch an, gingen Schallplatten und Fotokunst schon immer Hand in Hand.

In den Räumen des alten Gebäudes darf man zurzeit viele exemplarische Originale von alten und neueren Alben bestaunen. Die Ausstellung gliedert die Cover dabei nicht nur nach Inhalt und Optik, sondern auch Fotografen und Designer. Dass dabei Hipgnosis, Andy Warhol oder Anton Corbijn grosser Platz eingeräumt wird, überrascht nicht. Diese Künstler waren in vielen Genres und bei unzähligen Musikern wegweisend und machten aus den Umschlägen mehr als nur Bilder zur Musik. Natürlich findet man solch entscheidende Faktoren auch bei Labels wie ECM oder den alten Blues- und Jazz-Ikonen – durch alle Räume von „Total Records“ ziehen sich rote Fäden und spannende Vergleiche. Und zu jedem Unterpunkt findet man herrliche Ergänzungen aus der Schweizer Musikszene – von Chanson bis zu Post-Punk und Industrial.

Zwischen all den LPs, 7inchs und Gatefoldcover findet man auch immer wieder eine Überraschung: So wurden Yello von Herrn Corbijn abgelichtet, oder auf mehreren bekannten Platten die bereits verstorbenen Bandmitglieder entfernt. Denn auch den Schritt zum spielerischen Umgang mit Verfremdung und Neugestaltung von Alben wagt die Ausstellung. Ob geschichtsträchtige 7inch-Scheiben neu mit Collagen verziert oder Albencover zu absurden Grossbildern erweitert werden – „Total Records“ ist keine heilige Zelebration eines verstaubten Mediums. Die Ausstellung ist eine vielfältige und kunterbunte Betrachtungsweise der äusseren Werte. Hübsch präsentiert und interessant ausgewählt, findet hier jeder Musikfan und Vinylliebhaber sein Highlight. Schade nur, werden die Räume nicht mit passender Musik beschallt, wobei dies die Distanz zu Bild und Fotografie etwas stärkt. Hier sollen schliesslich die Leute hinter der Kamera und dem Design glänzen.

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Live: IAMX, Salzhaus Winterthur, 16-03-24

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IAMX
Donnerstag 24. März 2016
Salzhaus, Winterthur
Setliste

Ekstase – ein Wort reicht aus, um den aktuellen Zustand und Verlauf der Metanoia-Tour von IAMX zu erklären. Das Soloprojekt von Chris Corner aus London reist seit letztem Jahr erneut durch die Welt und versetzt schwarz gekleidete Menschen, düstere Clubs, Städte und Gemeinschaften in helle Aufregung. Clubmusik gepaart mit emotionalem Weltschmerz, flüssige Lavamelodien mit knusprig erhitzten Beats – der Siegeszug der Band setzt sich unaufhaltbar fort.

Jedenfalls fast gänzlich, denn dank dem Verkehrschaos vor Ostern trafen IAMX etwas später als gedacht im Salzhaus ein. Doch ein solch heftiges Konzert passt so oder so besser in die späten Nachstunden als in den Abend voller Biergespräche. Diese verstummten auch alsbald Chris und seine drei Mitmusikerinnen und -musiker die Bühne betraten und zwischen vier Leinwänden, unzähligen elektronischen Gerätschaften und Scheinwerfern ihre Plätze einnahmen. Was dann folgte, war eine Urgewalt – ein erneuter Beweis, dass die Band es blendend versteht, alle Menschen in einem Raum von der ersten Sekunde an mitzureissen. Die Keyboards und Synths hauten laute und eingängige Melodien raus, das Schlagzeug füllte die Leerstellen mit tanzbaren Beats und Rhythmen. Der Wohlklang wurde immer wieder mit Verzerrung und Albträumen gemischt, die Stroboskoplichter und Nebelmaschinen verwirrten die letzten klaren Gedanken. Wer sich am Anfang noch etwas über die Zurückhaltung wunderte, der wurde spätestens beim vierten Song mit in die Hölle genommen und nahm an der unendlichen Tanzparty teil.

Man erhielt das Gefühl einer Batterie, die mit jedem Lied stärker aufgeladen wurde und bei den Ausbrüchen von „Nightlife“, „No Maker Made Me“ oder „Your Joy Is My Low“ schier zu platzen drohte. IAMX gönnten dem Publikum wenig Ruhe und reihten lieber einen druckvollen Knaller an den anderen. Ihre Mischung aus hartem Dark Wave und modernstem Synth-Pop erzielte den vollen Effekt. Es sagt viel über die Gruppe aus, dass mich dieses Konzert so umgeworfen hat – zuletzt sah ich sie nämlich noch vor wenigen Monaten im KiFF. Doch wenn während 90 Minuten die Musik über allem dröhnte, die Videoschirme unablässig verstörende Bilder zeigten und die Lichter schier konstant Photonen in die Fresse der Zuschauer hauten, dann war dies ein hochemotionales Miteinander. Chris Corner thronte mit seiner melancholischen und oft schreiend verzweifelten Stimme als Herrscher über uns allen. IAMX spielten nicht nur ein Konzert, sie eroberten und erschlugen.

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Live: 40. Winterthurer Musikfestwochen, Steinberggasse, 15-08-22

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40. Winterthurer Musikfestwochen
Samstag 22.08.2015
Steinberggasse, Winterthur

Die Musikfestwochen in Winterthur sind Jahr für Jahr ein Garant für hohe Qualität der Musik und Konzerte, gerne bewege ich mich für einen Abend in die Schöne Altstadt. Die 40. Auflage des Festivals bot am letzten Samstagabend ein wunderbar gemischtes Programm und lockte mit genau so vielen Stilrichtungen, wie Musiker auf der Bühne. Da spielte es auch keine Rolle, dass ich zwei von drei Bands nicht wirklich kannte.

Den Start gelang wunderbar altmodisch mit dem Geschwisterntrio Kitty, Daisy & Lewis. Drei junge Menschen aus London, die sich der vergangenen Musik verschrieben haben. Egal ob Rockabilly, R’n’B oder Blues, man fühlte sich Jahrzehnte in die Vergangenheit zurück versetzt. Dass die zwei Schwestern in hautengen Catsuits auf die Bühne kamen lenkte kurz fast von ihren Fähigkeiten an den Instrumenten ab, doch dank regem Wechsel und sprunghaftem Umgang mit Genres triumphierte der Klang über die Optik. Faszinierend wie die Musikerinnen zwischen Schlagzeug, Keyboard, Gitarre oder Mundharmonika pendelten und sich mit dem Gesang abwechselten. Der Sound wurde dank zwei zusätzlichen Musikern auf der Bühne noch grösser als ab Platte und bescherte dem Publikum ein tolles Erlebnis.

Seasick Steve setzte diesen Zauber auf eigene Weise fort. Der 74-jährige Mann aus Kalifornien hat ein bewegtes Leben hinter sich, und ist über viele Umwege nun im fortgeschrittenen Alter als Musiker vor grossen Massen angelangt. Hinter dem langen und grauen Bart versteckt sich ein humorvoller, lebensfreudiger Mann, der aus seinen Konzerten mit wenigen Mittel eine Party gestaltet. Der erdige und dreckige Blues lässt er mit seinem selbstgebauten Instrumenten entstehen und stampft dazu wie ein Kobold auf der Bühne rum. Unterstütz von nur einem Schlagzeuger sind die Lieder oft episch und variantenreich, enden gerne Mal im Krawall. Dazwischen gab es Anekdoten aus seinem Leben, grosse Schlücke aus der Bierflasche und für eine junge Dame die ehre, von Steve auf der Bühne bezirzt zu werden. Lustigerweise war es dieselbe, die schon am Paléo Festival von ihm auf die Bühne geboten wurde. Eine John Deer Mütze hilft wohl für die Auswahl. Am Schluss des Konzertes schlug Steve mit seiner Gitarre auf das Schlagzeug ein und verliess die Bühne wie ein Gewinner eines Boxkampfes. Die Steinberggasse war verzaubert und jubelte furios.

Da war es gar nicht so schlecht, musste man auf den Headliner Calexico noch fast 45 Minuten warten. Als die Amerikaner dann auf die Bühne kamen und zwischen Umengen an Instrumenten Platz nahmen, waren die Zuhörer aber schnell in ihrem Bann. Die sieben Männer tischten uns eine wunderbare Mahlzeit voller Americana, Cumbia, Folk und Rock auf. Wurde das Set vor allem vom neusten Album „Edge Of The Sun“ bestimmt, konnte man sich völlig den mexikanischen Einflüssen hingeben. Dank zwei hervorragenden Bläsern spürte man förmlich die Wüstenluft und bewegte die Füsse wie von alleine. Und genau so vielfältig wie ihre Alben, präsentierte sich die Truppe auch in Winterthur. Musikalisch von höchster Qualität und abwechselnd zwischen leisen und lauten Liedern. Egal ob Gitarrenwände, Keyboardmelodien oder Xylophon, alles fügte sich zu einem wunderschönem Bild zusammen. Verständlich, dass die Band nicht aufhören wollte, genau so wie das Publikum unermüdlich applaudierte. So liessen sich die Leute aus Tuscon zu zwei Zugabenblöcke hinreissen und wagten sich an „The One I Love“ von R.E.M. Hammermässig und ein wunderbarer Abschluss für diese tolle Konzertnacht, an der sich die halbe Welt auf einer Bühne zusammenfand.

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Live: Godspeed You! Black Emperor, Salzhaus Winterthur, 15-04-25

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Godspeed You! Black Emperor
Support: Xylouris White
Samstag 25.04.2015
Salzhaus, Winterthur

Eine Legende kehrte an diesem Wochenende nach Winterthur zurück. Die Band Godspeed You! Black Emperor aus Kanada gilt als eine der wichtigsten Gruppen im Bereich Post-Rock, ihre Musik ist eine Urgewalt an instrumentalem Können. Seit den 90er veröffentlichen sie kryptische und faszinieren Alben, geben sich mysteriös und verschwinden als Band hinter ihrem Schaffen. Nach einer längeren Pause kehrten sie 2012 ohne Warnung zurück und blieben ihrem Stil treu. Auch das neuste Werk, „Asunder, Sweet And Other Distress“ ist eine Meisterleistung in instrumentaler Musik, immer nahe an der Grenze zum Untergang und Wahnsinn. Live auf der Bühne werden aus den Stücken Wesen, die alle Zuschauer in die Mangel nehmen, sie hin und her und wiegen und in Trance versetzen. Durch stete Repetition von Riffs, Abschnitten und Melodien entsteht ein Sog, der alles in sich vermengt. Ob hinter den Soundwänden nun die Erlösung, die Auslöschung oder die Hölle lauert, man gibt sich bereitwillig hin und verschliesst die Augen. Klangwellen und Lärm wird eines, im Ohr dröhnt die Musik und der Körper löst sich auf.

Wer trotzdem ab und zu einen Blick in den Raum wagt, sieht wie die Dunkelheit durch helle Projektionen auf der Bühne durchschnitten wird. Mit alten Filmprojektoren werden Bilder und Botschaften auf die Instrumente gelegt, der ewige Kampf zwischen Licht und deren Abkehr tobt zwischen Musiker und Zuschauer. Diese bleiben dabei alle ruhig, auch zwischen den epischen Liedern wird nicht gesprochen, man saugt jede Sekunde in sich rein und geniesst das intensive Erlebnis. Und wenn nach zwei Stunden die Band mit Ambient-Noise sanft verschwindet, ist man erschöpft aber glücklich. GY!BE live zu hören ist bereichernd, aber auch nicht ungefährlich. Besser und wuchtiger wird Post-Rock von niemand anderen dargeboten.

Dass zuvor Xylouris White die Leute aufwärmten, ist schon fast vergessen. Doch das Duo bot interessante und komplexe Musik, weit vom Mainstream entfernt. Nur mit Schlagzeug und Laute bewaffnet, spielten sie sich durch vielfältige Kompositionen und Lieder, die oft auf alten Traditionen zu beruhen scheinen. Es erinnert an Tanz- und Festmusik aus den östlichen Ländern, streift den Post-Rock und gibt sich auch gerne wilden Ausbrüchen hin. Keine einfache Angelegenheit, aber ein würdiger Support für die Kanadier.

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