World

Calexico – The Thread That Keeps Us (2018)

Seit neun Studioalben lassen uns Calexico in wärmere Gefilde entfliehen, spielen Reiseleiter durch die Südstaaten der USA und Mexico, und entlocken dem Americana immer wieder neue Perlen. Mit „The Thread That Keeps Us“ haben es die Mannen um Sänger Joey Burns und Schlagzeuger John Convertino erneut geschafft, all ihre Stärken neu zu bündeln und mit neuen Einflüssen zu versehen. Denn die Platte wurde nicht nur an der kalifornischen Küste aufgenommen, sondern erlaubt sich angenehm viel Dreck und Staub auf den Melodien. Die elektrischen Gitarren dürfen verzerrt durch die Landschaften schreiten, der Rock kapert sich Traditionen und formt neue Daseinsarten.

Aber keine Angst, weiterhin sind die tanzbaren Rhythmen, die Latino-Harmonien und die herrlich luftige Instrumentierung im Zentrum. Mit „Voices In The Field“ und „Bridge To Nowhere“ erhält man zu Beginn auch gleich grosse Highlights, doch „The Thread That Keeps Us“ fällt bis zu „Music Box“ nie in eine Grube und freut sich über den haftenden Sand. Diese neue Rauheit macht aus Calexico nicht nur eine frischer wirkende Band, es verleiht der Musik sogar eine weitere Ebene der Glaubwürdigkeit. Da passen sogar die kurzen Gitarren-Zwischenspiele („Spinball“ und „Shortboard“) perfekt in das Gesamtbild und öffnen das Werk für Psychedelic und Hippietum.

Man merkt Stücken wie „Under The Wheels“ oder „Dead In The Water“ richtig an, dass sich die Musiker von Calexico vollends auf ihr Können als Songschreiber verlassen und mit viel Esprit und Freude die Arbeit bewältigt haben. Man erhält offene Geschichten voller Flächen und Hall, kernige Momente in der heissen Sonne und Tanzverlockungen für die sommerlichen Nächte. Seit langem war kein Album dieser Band mehr voller so vieler mitreissender Momente, die sich sofort im Herzen einrichten und dort gerne für immer bleiben dürfen. „The Thread That Keeps Us“, und wir behalten euch noch ganz lange sehr nahe.

Anspieltipps:
Voices In The Field, Under The Wheels, Dead In The Water

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Nadah El Shazly – Ahwar (2017)

Es ist eine aufregende Zeit um in den Osten zu blicken und die aktuelle Musikszene zu beobachten. Denn wie abgesprochen, sind in den letzten wenigen Jahren einige frische Künstlerinnen an der Oberfläche aufgetaucht, die nicht nur in ihrer Heimat, sondern global für Furore gesorgt haben. Nach Yasmine Hamdan (Libanon) und Noga Erez (Israel) zieht mit „Ahwar“ auch Nadah El Shazly aus Ägypten nach, bietet auf ihrem Album aber vor allem Andersartiges. Passend zum surrealistischen Covermotiv taucht man tief in wundersame Kompositionen ein, weit weg vom Pop.

„Afqid Adh-Dhakira“ lässt zwar die Gedanken in Richtung arabische Eingängigkeit gleiten, Nadah El Shazly macht dem aber nach wenigen Takten einen Strich durch die Rechnung und nimmt den Hörer mit in die befremdende Welt aus schrägen Arrangements, abstrakten Klangfolgen und dem Jazz nahe Expositionen. Viel von der Punk-Vergangenheit der Künstlerin blieb also nicht übrig, umso erstaunlicher ist die Weite, welche sich auf diesem Debüt auftut. Von direkter Gesangperformance, nur mit wenigen Instrumenten untermalt, bis hin zu leichten Beats und Drones ist alles vorhanden und webt sich bunter zusammen als die schönsten Teppiche auf dem Markt.

Dass man Nadah El Shazly nicht versteht, ausser man ist des Arabischen mächtig, tut dem Genuss zu keiner Sekunde weh – viel eher wirken gewisse Passagen und Melodien noch ferner und interessanter. Die Reise, welche man mit „Ahwar“ unternimmt ist somit niemals ein Klischeeprodukt des Ostens, sondern ein progressiver und mutiger Schritt in die Emanzipation. Was sich wohl mit wenigen anderen Künstlern direkt vergleichen lässt, ist hier eine Begegnung voller Herausforderungen und Belohnungen. Offene Geister verbindet euch.

Anspieltipps:
Afqid Adh-Dhakira, Palmyra, Koala

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Live: Yasmine Hamdan, Moods Zürich, 17-10-13

Yasmine Hamdan
Freitag 13. Oktober 2017
Moods, Zürich

Es sollte nicht verwundern, dass an diesem Freitagabend der Saal im Moods bis zur Türe packend gefüllt war. Wir leben in Zeiten, in denen sich Kulturen und Länder immer mehr vermengen, zu neuen Schöpfungen und Perspektiven. Während wir im Kino eine israelische Schauspielerin anhimmeln, die eine Amazone in einer amerikanischen Produktion spielt, ist es nur logisch, vor Yasmine Hamdan in die Knie zu gehen. Die Sängerin aus dem Libanon beweist in ihrer Musik nämlich, dass West und Ost perfekt zusammenpassen.

Geschmackvoll beleuchtet mit einzelnen Glühbirnen und projizierten Mustern im Hintergrund führte die schöne und starke Frau ihre drei Musiker (Cedric Le Roux – Gitarre, Minh Pham – Synthie, Loïc Maurin – Schlagzeug) durch ein Set, dass alle verzauberte und mitriss. Um ihr aktuelles Album „Al Jamilat“ aufgebaut, versank man nach wenigen Takten in einer Welt, in der leise Klagegesänge zu elektronisch pochenden Stücken wurden oder sich in lauten Gitarrenwänden auflösten. Yasmine Hamdan vollführt mit ihrer Band live das Kunststück, ihre kleinen Schhöpfungen zu neuem Leben zu führen, Aussagen in Ausbrüchen zerfliessen zu lassen.

Sie zelebrierte in glitzerndem Oberteil, mit verführerischen Blicken zwischen ihrem wallenden Haar und extrovertierten Tanzbewegungen ihre Ausnahmestellung im arabischen Pop. Denn innert kurzer Zeit hat sie mit – auch an diesem Abend wuchtigen – Liedern wie „Assi“ oder „Ya Nass“ den Trip Hop und Electropop in arabischer Musik einverleibt und mit Akzenten der Sahelzone oder des Bouzouki garniert. Begleitet wurden die Klänge von extrem emotionalem Gesang, der Spieltrieb und Ausführung zugleich ist. Denn ob hier nun Dramaqueens oder politische Entscheidungen die Hauptrolle spielen, Hamdan lebte diese Schicksale.

Das Sprach- und Kreativtalent Yasmine Hamdan spielte somit nicht nur mit ihrer Band und liess Stücke härter, männlicher oder lauter werden, sondern auch mit dem Publikum und liess uns träumen und schwitzen. Zwischen langen Tanzmomenten und Kaskaden purer Schönheit gab es den Song vom Film „Only Lovers Left Alive“ und mehrsprachige Ansagen. Und als der Auftritt in Zürich dann mit der herzlichen Betrachtung und Liebeserklärung an Beirut endete, war endgültig klar: All diese vermischten Welten unterscheiden sich im Herzen gar nicht. Frau Hamdan spricht mit ihrer Musik aus, was allen schon lange bewusst sein sollte, und das auf schönste Weise.

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Yasmine Hamdan – Al Jamilat (2017)

Yasmine Hamdan – Al Jamilat
Label: Crammed Discs / Irascible, 2017
Format: Download
Links: Facebook, Künstlerin
Genre: World / Electronica

Musik aus dem Libanon, wohl wenige von euch Lesern hören dies regelmässig oder können einen Künstler aus diesem Land aufzählen. Nun ist es aber an der Zeit umzudenken, denn mit „Al Jamilat“ ist das zweite Album der ehemaligen Sängerin von Soapkills zu verlieben bereit. Yasmine Hamdan hat nämlich erneut das Kunststück fertig gebracht, die westliche Musik in fremdländische Klänge einzubetten und somit Welten homogen zu verbinden. Arabischer Pop trifft auf Downtempo und Worldmusic – hier findet man wirklich die Hübschen.

Das Album fängt eigentlich ganz zärtlich an, doch schon nach wenigen Takten ist man in die tiefe und gerne auch etwas raue Stimme von Yasmine Hamdan verliebt. Bestes Beispiel ist die Single „La Ba’den“, welche alle Qualitäten der Künstlerin perfekt darlegt. Ergreifende Melodien, bezaubernden Gesang und eine durchdachte Instrumentierung. Dank den Produzenten Luke Smith und Leo Abrahams sowie den Musikern Shahzad Ismaily (Lou Reed) und Steve Shelley (Sonic Youth) birgt jeder Song ungeahnte Schätze und Möglichkeiten.

Wenn ein Stück wie „Assi“ vom sanftem Folksong zur Trip-Hop-Träumerei wird,oder unaufgeregte Melodien erotische Momente versprechen, dann geht die Musik von Yasmine Hamdan perfekt auf. Man merkt „Al Jamilat“ die Erfahrungen der Musikerin an, das Album wirkt wie eine Lebensreise. Musik wird hier zu einer Spielwiese voller schöner Mentalitäten, Elektronik und traditioneller Anstriche. Egal ob Lautmalerei oder Gesangsspiel, offene Ohren erhalten hier eine wunderschöne Horizonterweiterung.

Anspieltipps:
La Ba’den, K2, La Chay

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Agnes Obel – Citizen Of Glass (2016)

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Agnes Obel – Citizen Of Glass
Label: Play It Again Sam, 2016
Format: Download
Links: Discogs, Künstlerin
Genre: Folk, Pop

Der Bürger aus Glas – eine Allegorie, die in viele Dystopien über einen totalen Überwachungsstaat angewandt wird. Doch beim dritten Album von Agnes Obel tragen diese Worte eine andere Bedeutung, dies wird nach wenigen Minuten voller neuer Musik klar. Die Lieder in „Citizen Of Glass“ klingen nämlich extrem transparent, zerbrechlich und edel – wie eine teure Glas-Skulptur, die sich viele Leute in dieser Zeit wieder in die Wohnung stellen. Im Gegensatz zu dem fragwürdigen Schmuck bleibt die Künstlerin aus Dänemark aber immer geschmackvoll und stilsicher.

Für ihr neustes Werk hat die in Berlin wohnhafte Künstlerin Agnes Caroline Thaarup Obel fast ganz alleine Lieder aufgenommen. John Corban mit seiner Geige und Kristina Koropecki und Charlotte Danhier an den Cellos untermalen die Kompositionen auf „Citizen Of Glass“ zurückhaltend – vorherrschend sind aber Obels Stimme, ihr Klavierspiel und die überlegten Klanglandschaften. Die Lieder sind anmutig, reduziert und wagen sich selten vom kleinen Zimmer in die grosse Halle. Da passt es auch, dass die Musikerin ihre Stücke zwischen Folk, neuer Klassik und Neigungen der Popwirkung ansiedelt – ohne Aufsehen zu erregen.

„Citizen Of Glass“ lebt von den kleinen Veränderungen, den versteckt dahintapsenden Melodien, den leisen Akkorden und fein gezupften Saiten. Mit ihrer variablen Stimme lässt Agnes Obel die Lieder vom mittelalterlichen Sternenabend direkt und plastisch in unserer Wohnung entstehen und erreicht auch mit gehauchten Worten eine eindrückliche Wirkung. Dabei entstehen sogar Hits, Momente wie „Familiar“ brennen sich sofort fest und erwärmen das Herz. Eine wunderhübsche Platte für die entschleunigten Abende in der Winterzeit.

Anspieltipps:
Familiar, It’s Happening Again, Citizen Of Glass

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Traktorkestar – Deafening Lullabies (2016)

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Traktorkestar – Deafening Lullabies
Label: Irascible, 2016
Format: CD
Links: Facebook, Band
Genre: World, Brass

Und da ist es wieder, das unberechenbare und laute Orchester – wie immer etwas anders als sonstige Kandidaten. Traktorkestar rollen weiterhin mit viel Gepolter durch die Schweizer Musikszene und bleiben auch auf ihrem neusten Studioalbum „Deafening Lullabies“ unberechenbar. Schon alleine, dass die grosse Band für ihr Werk das Kleid der Ostblock-Staaten abgestreift hat und sich damit wohl einige schräge Blicke einfangen wird, zeugt von Mut. Wo andere Gruppen wohl über die eigene Ambition stolpern würden, beginnt es hier erst richtig Spass zu machen.

Diese Veränderungen zu einer Gruppe der musikalischen Vielfalt und dem breiten Spektrum erkennt man gleich an der ersten Single mit wunderbar animiertem Video: „Lost Boy & Suicide Girl“ lockt mit Gesang in Mundart nahe bei Mani Matter, einem zurückhaltenden Rhythmus und wunderbaren Fanfaren nebst tollem Beat. Traktorkestar zeigen, dass man nicht immer laut schreiend mit dem Schnapsglas in der Hand durch die Clublokale stolpern muss. Eine Brass-Band funktioniert auch mit eingängigem Kleid, Gastsänger und Pop-Allüren.

Doch keine Angst, auch „Deafening Lullabies“ bietet tobende Instrumental-Tracks – Trompeten, Saxophone und Trombonen als wunderbarer Völkeraufstand und Völkerverbindung. Traktorkestar bleiben mit dieser Platte unterhaltsamer als jedes Abendprogramm und beweisen erneut extrem grosses Talent für Melodien, erregende Takte und der besten Verwendung von Blech. Ein weiterer Schritt in jede Richtung, was hier nur richtig bedeuten kann. Und in Zeiten wie diesem ist Zusammenhalt schliesslich genau das, was wir brauchen.

Anspieltipps:
Lost Boy & Suicide Girl, So Low, Xupitos

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Jarlath Henderson – Hearts Broken, Heads Turned (2016)

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Jarlath Henderson – Hearts Broken, Heads Turned
Label: Bellows Records, 2016
Format: CD
Links: Discogs, Künstler
Genre: Traditional, Folk, World

German below.

Music is timeless, eternal and yet bound to a certain period and many current circumstances. Again and again artists return to the roots of the past and let them sprout in the now. With friends, with same minded – with modern means, as a humble bow. Jarlath Henderson from Ireland picked eight very old traditionals and compositions from the Celtic area, to catapult them into the year 2016 with „Hearts Broken, Heads Turned“. Not a sign of eternal romance, not as compelling future searches, but as a token of love for the musical present.

„Courting Is A Pleasure“ begins the records not only by bringing geographical, cultural or emotional factors together, but proves that Folk and World can be successfully interpreted modern. Flute and violin take on samples and synths, later menacing basses roar under lamented texts. Fender Rhodes and Moog plow moor fields and green meadows – above all the fantastic and extremely soulful voice of Jarlath Henderson. He intoned the old stories changeable, full of feeling and engaging. You listen to him, are carried by the guitar and suddenly feel like every single note trigger tears orjoy. You subconsciously start to cheer with the characters in the lyrics.

With „Hearts Broken, Heads Turned“ Jarlath Henderson has given Folk music not only given another album but a masterpiece. Each song is fantasticly constructed in sections and instrumentally perfect performed. Whether you listen to the minimalism in „Young Edmund In The Lowlands Low“ or shake to the jazzy „The Slighted Lover“ – this is one of these records that will shine forever. Already, these pieces are in the top list of the year and at the dazzling throne of World Music. Henderson and his musicians have created a miracle and at the same time a counterpoint to the xenophobic mood in the world. Stunning.


Musik ist zeitlos, ewig und doch an eine gewisse Epoche und viele momentane Umstände gebunden. Immer wieder aber kehren Künstler zu den Wurzeln in der Vergangenheit zurück und lassen diese neu im Jetzt spriessen. Mit Freunden, für Verbundene – mit modernen Mitteln, als Verbeugung. Jarlath Henderson aus Irland suchte sich für „Hearts Broken, Heads Turned“ acht sehr alte Traditionals und Kompositionen aus dem keltischen Gebiet aus, um diese ins 2016 zu katapultieren. Nicht als Zeichen der ewigen Romantik, nicht als zwingende Zukunftssuche, sondern als Liebesbeweis für die musikalische Gegenwart.

„Courting Is A Pleasure“ bringt gleich zu Beginn nicht nur geographische, kulturelle oder emotionale Faktoren zusammen, sondern beweist, dass Folk und World sehr wohl gelungen modern interpretiert werden können. Flöte und Geige treffen auf Samples und Synths, später dröhnen bedrohliche Bassflächen unter den lamentierten Texten. Fender Rhodes und Moog durchpflügen Moorfelder und grüne Wiesen – über allem die fantastische und extrem gefühlsvolle Stimme von Jarlath Henderson. Er intoniert die alten Geschichten wandelbar, voller Gefühl und mitreissend. Man lauscht ihm, lässt sich von den Gitarren tragen und spürt plötzlich, wie einzelne Noten die Tränen auslösen oder man unbewusst mit den Charakteren in den Texten mitfiebert.

Mit „Hearts Broken, Heads Turned“ hat Jarlath Henderson der Folk-Musik nicht nur ein weiteres Album geschenkt, sondern ein Meisterwerk. Jedes Lied ist fantastisch durchdirigiert, in Kapiteln aufgebaut und instrumental perfekt ausgeführt. Ob man bei „Young Edmund In The Lowlands Low“ dem Minimalismus lauscht oder jazzig mitschwingt wie bei „The Slighted Lover“ – dieses Werk ist eine dieser Platten, die für immer strahlen werden. Bereits jetzt gehören diese Stücke in die Bestenliste des Jahres und bei der Worldmusik auf den schillerndsten Thron. Henderson und seine Musiker haben ein Wunder erschaffen und zugleich einen Gegenpol zur fremdenfeindlichen Stimmung auf der Welt. Umwerfend.

Anspieltipps:
The Slighted Lover, Young Edmund In The Lowlands Low, The Mountain Streams Where The Moorcocks Crow

Calexico – Edge Of The Sun (2015)

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Calexico – Edge Of The Sun
Label: City Slang, 2015
Format: Doppelvinyl, mit Download
Links: Discogs, Band
Genre: World, Americana, Folk

Mexiko, mittelamerikanisches Land voller Sonne und guter Musik. Joey Burns und John Convertino, die man so langsam als modische Archivare der musikalischen Stilrichtungen in Amerika betiteln könnte, wissen dies wertzuschätzen und widmen ihr neues Album dem Land. „Edge Of The Sun“ mischt viel Tradition mit bekannten Momenten der Geschichte von Calexico. Die Musiker haben dabei eine Platte geschrieben, die Wärme und Licht ausstrahlt, und vor allem an tollen Sommertagen wunderbar in die Stimmung passt.

Grundlage für die neuste Arbeit stellt wieder der Americana mit viel Mariachieinfluss dar, eine gitarrengetriebene, folklorische Atmosphäre voller Melodie und Tanz. Wie von der Band gewohnt, werden die Lieder schunkelnd und fröhlich angeboten, man tänzelt durch die Gassen und hält ein Bier in der Hand. Dank vielen Gastbeiträgen und diversen Sängern ist „Edge Of The Sun“ ein farbenprächtiges Werk, taucht manchmal tief in den Cumbia ein, oder hält sich ganz instrumental. Calexico waren schon immer eine Band, die ihre Musik wie Bilder gestalteten. Jedes Lied ist wie ein Mikrokosmos, eine tolle Geschichte und eine weitere Station in der grossen Weltreise. Man tanzt Walzer, spaziert durch kleine Gassen, sitzt in staubigen Bars, macht Siesta in der Wüste. Dass die Gruppe in der Vergangenheit sich dabei oft etwas wiederholte, oder die Lieder doch nicht genügend ausarbeitete, ist hier vergessen. „Edge Of The Sun“ ist stimmig, macht Spass und weiss alle Ideen spannend zu halten und geschickt ineinander einzuflechten. Die einzelnen Episoden ergeben ein tolles Ganzes, mit einer musikalischen Vielfalt. Bläser, Gitarren, Perkussion, spanisch und englischen Gesang. Dank der zweiten Vinylscheibe darf man noch tiefer in den Kosmos eintauchen, als wenn man nur die reguläre Edition besitzt. Sechs zusätzliche Lieder wagen einen weiteren Schritt und vergessen die Grenzen komplett. Was auf dem Album zu stark aufgefallen wäre, oder der Band zu fest aus der Reihe tanzt, darf hier glänzen und begeistern. Für mich sind diese Bonustracks das wahre Highlight, das Thema Mexiko darf sich richtig entfalten.

Mit ihrer neusten Scheibe beweisen Calexico, dass sie weiterhin viel zu erzählen haben, und je nach Thema zu Grossleistungen fähig sind. „Edge Of The Sun“ ist eine Platte, die komplett überzeugt und keine Ausfälle aufweist, den beschmückten Americana liebenswert darbietet. Gerne möchte man durch mexikanische Städte ziehen und die romantische Atmosphäre des Albums spüren. Für Kulturinteressierte eine Wundertüte.

Anspieltipps:
Bullets & Rocks, Cumbia De Donde, Woodshed Waltz

Yasmine Hamdan – Ya Nass (2013)

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Yasmine Hamdan – Ya Nass
Label: Crammed Disc, 2013
Format: CD im Digipak, mit Booklet
Links: Discogs, Künstlerin
Genre: Downtempo, World, Pop

Trip-Hop aus Libanon? Wenn man ein solches Album hört weiss man, die Globalisierung hat so langsam jeden Ecken der Welt erfasst – oder besser gesagt, die Modernisierung. Denn Yasmine Hamdan kehrt mancher Tradition den Rücken zu und umarmt die zeitgenössische Welt. In Beirut geboren, sorgte die sehr hübsche Künstlerin schon früh für Aufsehen und war Mitglied der Band „Soap Kills“, die erste Independent-Gruppe im nahen Osten. Dank Kollaborationen mit bekannten Produzenten wurde ihre Musik bald auch in Europa und den USA gehört. 2012 veröffentlichte sie ihr erstes Soloalbum, das ein Jahr später überarbeitet noch einmal neu das Licht der Welt erblickte.

„Ya Nass“ empfängt den Hörer mit der lieblichen und wandlungsfähigen Stimme von Yasmine, sanfter Instrumentierung und beschaulichen Melodien. Obwohl alle Texte in Arabisch vorgetragen werden, fühlt man sich der Sängerin gleich nahe und vertraut. Der magische Moment, wenn sich Inhalte auch ohne sprachliche Verständigung erschliessen, tritt hier ein. Mit „Enta Fen, Again“ beginnen die Synths und Keyboards zu brummeln und die Musik bewegt sich mehr in Richtung des Trip-Hop und Downtempo. Hier fällt gleich auf, wie genial Frau Hamdan traditionelle Aspekte mit moderner Produktion verbindet. Nebst dem Gesang, den sie von der arabischen Strenge wegführt, dürfen die Instrumente oft orientalisch anmutende Melodienläufe spielen und dabei angenehm fremd klingen. Für mich ist es immer eine willkommene Abwechslung, wenn sich Musiker nicht an die Konventionen der im Westen bekannten Klangwelt halten. „Ya Nass“ wurde zwar zu einem grossen Teil in Frankreich aufgenommen, driftet aber weit weg von Europa und Kommerz. So manchen Hörern erschliessen sich die Songs vielleicht nicht beim ersten Durchlauf, belohnen aber umso mehr mit tief greifenden Strukturen und verschachtelten Ebenen. Im Hintergrund lässt sich vieles entdecken ohne vom Wesentlichen abzulenken.

Lied für Lied baut sich das Album so zu einem wunderbaren Kaleidoskop an Ton und Klang auf, immer den elektronisch fremden Pop im Auge. Yasmine Hamdan weiss, wie man Perkussion und alte Instrumente wie das Guembri mit modernem Programming und Beats mischt, ohne die Seele zu verlieren oder sich in Experimenten zu verschachteln. „Ya Nass“ bleibt meist sparsam, wirkt aber genau deswegen grösser als so manch anderes Album. Gerne verliert man sich zwischen den Zeilen und dem betörenden Gesang, reitet auf den Takten davon und fischt glitzernde Sequenzer aus dunklen Tiefen. Eine echte Empfehlung, auch live.

Anspieltipps:
Shouei, Enta Fen; Again, Aleb

Big Blue Ball – Big Blue Ball (2008)

“Musik für die Ewigkeit”; unter diesem Label veröffentliche ich Reviews zu Platten und Alben die mein Leben am stärksten beeinflusst haben und mir für immer ans Herz gewachsen sind. Meine persönlichen Platten für die einsame Insel.

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Big Blue Ball – Big Blue Ball
Label: Real World, 2008
Format: Doppel-Vinyl im Gatefold
Links: Discogs, Projekt
Genre: World, Folk, Pop

Manche Platten benötigen etwas länger, um endlich vollendet in den Regalen zu stehen. Das Projekt „Big Blue Ball“ und die daraus entstandenen Songs mussten 18 Jahre auf ihre Veröffentlichung warten – eigentlich eine normale Spannweite, wenn man die Leitung von Peter Gabriel in Betracht zieht. Denn unter seiner Fuchtel versammelten sich in den 90er Jahren Musikerinnen und Musiker aus aller Welt in den Real World Studios, um zusammen zu jammen und neue Lieder zu schreiben. Verteilt auf mehrere Wochenenden in drei Jahren sammelten Gabriel und Konsorten Unmengen an Fragmenten und halbfertigen Songs, die in liebevoller Arbeit zu einem interessanten und farbenprächtigen Album zusammengemischt wurden. Die grosse, blaue Kugel war geboren.

„Whole Thing“ startet das Album mit einem wunderbaren und typischen Lied von Peter Gabriel. Sein Gesang begleitet uns in die Klangspiele der weiten Welt und zeigt, was alles möglich ist. Denn in jedem Stück mischen sich nicht nur die Künstler, sondern auch die Kulturen und Länder. Gleich beim ersten Lied werden die westlichen Rhythmen aufgemischt, eine verzerrte Flöte mischt sich magisch hinein. Spätestens ab jetzt weiss man: Grenzen gibt es nur im Kopf und in der Politik. Für die Zeit mit dem Kollektiv „Big Blue Ball“ ist alles erlaubt, und was zusammen passt, wird gemacht. „Habibe“ verzaubert uns mit arabischem Flair und tollem Gesang, „Shadow“ mit seiner Flamencogitarre und dem treibenden Takt. Afrika, Asien, Europa, die Kontinente geben sich die Hände und verbinden ihre musikalischen Geschichten. Sei es Papa Wemba, Sinead O’Connor, Manu Katché oder Joji Hirota, alle inspirierten sich gegenseitig und zeigten sich neue Arten und Möglichkeiten der Musik. Gerade die erste Hälfte der Platte mit all diesen erwähnten Liedern ist grossartig. Das stark von der irischen Kultur beeinflusste „Altus Silva“ stellt für mich einen unerreichten Höhepunkt dar. Die Melancholie, der gälisch-englische Gesang, die Flötenmelodien und der Text. Hier zeigt das Projekt, wie grandios solche Musik werden kann.

Leider aber verliert das Album ab diesem Punkt dann etwas an Grösse. Nicht alle Songs überzeugen komplett und man ertappt sich manchmal beim Gedanken, dass das Musizieren wohl spassiger war als das Anhören des Endprodukts. Aber wie es so oft ist bei Jamsessions: es kann nicht alles Gold sein, was glänzt. So fehlt „Exit Through You“ das gewisse Etwas, um vollends zu überzeugen,  „Forest“ ist eher langweilig. Peter Gabriel bewies aber auch hier wieder einmal, dass er nie stillsteht. So finden sich Songs in seinen Liveshows und werden heute noch verändert und umgebaut. „Big Blue Ball“ dreht sich wie unsere Erde immer weiter und hat mich damals in die weite Welt der World-Musik eingeführt. Noch heute sind mir die Lieder nicht verleidet und begleiten mich in jeder Lebenslage. Ein Album, das einen Blick auf die vielfältige Musikwelt offenbart wie selten ein anderes. Wäre doch alles auf diesem Planeten so harmonisch und vereint.

Anspieltipps:
Whole Thing, Altus Silva, Jijy