Electronica

Live: Fever Ray, Volkshaus Zürich, 18-02-24

Fever Ray
Support: Tami T
Samstag 24. Februar 2018
Volkshaus, Zürich

Es war schon fast eine etwas zu grosse Ehre, Fever Ray an diesem Samstag in Zürich erleben zu dürfen. Nicht nur zeigte sich die schwedische Künstlerin nach langen Jahren endlich wieder auf der Bühne, sondern brachte auch gleich ihr neustes Album „Plunge“ mit – welches einen Tag vor diesem Auftritt erschien. Die Lieder hatten also immer noch den Glanz der kleinen Geheimnisse. Verstärkt durch die toll durchgeplante Show wirkte somit alles sehr frisch und aufregend. Doch alles andere hätte uns bei Karin Elisabeth Dreijer auch nur erstaunt.

Mit einer rein weiblichen Band und einem perfekt durchgeplanten Gesamtkonzept eroberte die ehemalige Frontfrau von The Knife nämlich nicht nur das Volkshaus, sondern auch unsere Köpfe und Herzen. Das Bühnenbild zeigte sich mit neonfarbenen Lichtern, Lasereffekten und Strobo wie ein heruntergekommenes Festival aus der Welt von Blade Runner, Fever Ray und ihre Partnerinnen traten in bunten und absurden Kostümen auf. Diese Verkleidungen dienten aber nicht nur zur Unterhaltung, sondern widerspiegelten die Klischees und Vorurteile der patriarchischen Gesellschaft.

Denn auch wenn neue Lieder wie „IDK About You“ oder „To The Moon And Back“ eher wie leicht durchgeknallter Pop klingen, geht es hier um Gleichberechtigung, Emanzipation und Toleranz. Fever Ray ist deswegen nicht nur in den Kennerkreisen der experimentellen Electronica beliebt, sondern sorgt auch in der LGBT-Gemeinschaft immer wieder für Jubel und Furore. Und genau dies war auch die Kernaussage an diesem Samstag: Seid offen, seid menschlich und gebt der Liebe eine Chance. Unterstrichen mit harten Bässen, dreistimmigem Gesang, wilder Perkussion und schrägen Synths – da wurde sogar der eher düstere Track „If I Had A Heart“ zu einem schillernden Stern.

Beruhigend war auch zu sehen, wie bunt und ideenreich eine Welt aussieht, in der Frauen das Zepter übernommen haben und Musik wie auch Auftreten ohne Geltungszwänge und Egozentrik ausleben dürfen. „I’m Not Done“ singt sie in der zweiten Hälfte des Konzertes und lässt unser Herz mit solchen Aussagen freudig hüpfen – denn solche Künstlerinnen brauchen wir noch lange. Und Verstärkung fand Fever Ray an diesem Abend durch ihre Produzentin und Songbastlerin Tami T aus Göteborg.

Seit Jahren in der Szene der Pop und des Dance aktiv, zeigte die momentan in Berlin sesshafte Künstlerin ihre polyphonen, direkten und immerzu sexuell aufgeladenen Perspektiven auf unsere Welt. Mit einem zwischen den Beinen platzierten Trigger-Stock, frechen Texten und viel Vocoder heizte Tami T gleich von Beginn an ein und liess die Leute ausgelassen tanzen. Irgendwo zwischen EDM, Pop und Techno – so bunt und vielfältig wie die deutsche Hauptstadt, so ehrlich wie nötig. Die Nacht war so vielleicht nicht immer genormt und leicht zu verdauen, aber immer wahrhaftig und existenziell.

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

This Is Where – This Is Where (2018)

Man nehme Musiker von den donnernden Swans und den düstereen Bee And Flower, mische diese einmal kräftig in der Pfanne und erhalte — keine brachiale Gitarrenmusik! This Is Where, das neue Projekt von Algis Kizys, Norman Westberg und Lynn Wright gibt sich lieber den besinnlichen Drones und den angenehmen Ambientwirkungen hin. Mit zwei Gitarristen und einem Basisten ausgestattet, hat sich das Trio nach einer ersten Veröffentlichung 2016 nun zusammengesetzt, um vier lange Kompositionen unter dem Namen „This Is Where“ aufzunehmen.

Dabei ergänzen sich Covermotiv und klangliches Spektrum sehr gut, wabern Momente wie „1-6:0“ oder „2:2-7“ sanft und oft auch unscheinbar umher. This Is Where geniessen die leisen Frequenzveränderungen und spielen immer wieder schleichend neue Melodienfetzen ein. Algis Kizys legt mit seinem Bass eine Landschaft, auf der die Saitentänze von Westberg und Wright einen perfekt Untergrund erhalten und sich so alles gemeinsam wie warmer Nebel erhebt. „4:5“ zerreisst für einen kurzen Augenblick diese Idylle mit Rückkopplungen und Lärm, betört aber vor allem auch mit den Flächen im Hintergrund.

Allgemein ist die Musik von This Is Where überraschend tiefgehend. Für jede klar aufgenommene Spur gibt es schummrige Resonanzen, welche fast unhörbar die Stücke übernehmen. Und wenn „3:4-5“ am Ende dann wie ein grosser Schatten in die luftigen Höhen aufsteigt, dann folgt man dieser Verheissung mehr als gerne und lässt sich von der bestehenden Form ohne Angst in etwas neues transformieren. All dies, ohne sich jemals bedroht zu fühlen.

Anspieltipps:
2:2-7, 4:5, 3:4-5

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Schlammpeitziger – Damenbartblick auf Pregnant Hill (2018)

Wenn sich die Melodienflötisten durch den Taktgarten schwadronieren, dann hüpft das Jammerloch von Seite zu Seite. Immer leicht betrunkenspielend und nie ganz Volldenker, doch dieser „Damenbartblick auf Pregnant Hill“ öffnet neue Horizontvorhänge. Und so ist es auch nicht ganz leicht, diese Tanzverquerungen und Synapsenstreichler festzuhalten. Ihre Extremitäten sind zwar nicht glitschig, aber schneller als die Augen – oder blendet bloss wieder das Randlicht? Wie auch immer, Schlammpeitziger packt auf seiner neusten Rundung das Kraut an der Wurzel und oszilliert seine Gerätschaften zwischen digitalem Abbau und analoger Hochkonjunktur.

Bereits mit den Namensgebungen wird man alleine in das Beerenfeld gestellt: „Smooth Motion Kaukraut“, „Wasserstopf“ oder „Bock Bounceburg“ – Nomen est Omen und Schlammpeitziger nimmt die Buchstaben vor seinen Augen und legt sie auf die Notenblätter. Da hilft auch keine locker angeschlagene Gitarre, denn Keyboard und Synthies fliegen schon lange am Unterbauch der holzgezimmerten Taubenschläge umher. Seit 1992 zaubert Jo Zimmermann unter dem schlammigen Namen in dem Gebiet der elektronischen Musik, und seit damals wächst sein Bekanntheitsgrad immer weiter, wie die grosse Bohnenstange im Märchen. Trotzdem kein Grund, den Schwangerschaftshügel alltäglich zu pflegen.

Viel eher sind querulante Spoken-Word-Risszeichnungen wie „Ekirlu Kong“ oder klausschulzende Gewässer wie „What I Got“ ein Ökosystem, dass weder in ein Einmachglas noch eine Resonanzkuppel passt. Kein Wunder also, spazieren hier die Gurken am Strand der Regenwasserozeane und fühlen sich dabei so frei wie noch nie. Gemütlich hopsen wir also gemeinsam durch die Electronica und finden dabei weder bekannte Strassen noch gepflegte Pisten. Aber das macht für einmal ja auch ganz zufrieden.

Anspieltipps:
Ekirlu Kong, Kandierte Jammerlochlappen, What I Got

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Dedekind Cut – Tahoe (2018)

Der amerikanische Soundtüftler Fred Welton Warmsley III war als Dedekind Cut schon immer dafür bekannt, dass er seine Musik nie gleichförmig behandelte. Viel eher suchte der Künstler immer wieder neue Formen und Evolutionsstufen, landete mit seinem anfänglich kühlen und industriellen Weltbild immer mehr im organischen Ambient. Mit dem zweiten vollwertigen Album „Tahoe“ gibt es vor allem dies: Lange dahinfliessende Flächen, angenehme Verzerrungen und Akkorde, die erst in der Ewigkeit enden. Mit gleich zehn Minuten ist „Crossing Guard“ das beste Beispiel für diese Entspannung.

Allerdings hat Dedekind Cut nicht nur die Füsse hochgelagert, sondern Synthie-Geschichten mit Field Recordings und Drones zu einer ureigenen Welt kombinieret. Ob das exotisch anmutende „MMXIX“ aus der Zukunft stammt, kann niemand genau sagen, es zeugt auf jedem Fall von grosser Weitsicht und Toleranz. Wie auch das wunderschöne und emotionale Titelstück, in das man für immer eintauchen und die Zeit vergessen möchte. Allgemein ist die vierte Dimension ein wichtiger Faktor auf „Tahoe“, ob man sie nun vergisst oder als Leitfaden benutzt.

„De-Civilization“ und „Spiral“ wirken gegenübergestellt nämlich wie aus verschiedenen Epochen geborgen, als ob Dedekind Cut der Verwalter eines temporalen Archivs wäre. So ist dieses Album nie bestimmt zu verorten und passt sich scheinbar der Umgebung an, hat aber immerzu eine eigene Wirkung auf den Hörer. Und bevor man mit „Hollow Earth“ in die lärmenden Gesteinsschichten herabsteigt, ist es ganz nützlich, wenn man konzentriert Energie gesammelt hat. Denn so vernimmt man auch in den grössten Schatten auf diesem Werk die funkelnde Schönheit der elektronischen Musik.

Anspieltipps:
Tahoe, MMXIX, Hollow Earth

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

U.S. Girls – In A Poem Unlimited (2018)

Eine Frau macht den Unterschied: Was sowieso immer auf der Welt gilt, und langsam auch von allen bewusst wahrgenommen wird, gilt auf „In A Poem Unlimited“ im Extrem. Das neuste Album der in Toronto wohnhaften Musikerin Meg Remy ist nämlich eine unglaublich beeindruckende Übung in emanzipiertem Pop – sei es nun in klanglicher oder inhaltlicher Weise. U.S. Girls nennt sich die Künstlerin seit 2007 und wirbelt mit ihrer Auffassung von alternativem Pop so ziemlich alles durcheinander. Auch mit ihrem sechsten Werk ist dies nicht anders, allerdings passen jegliche Gegensätze so perfekt zusammen, dass man sich es gar nicht anders wünscht.

Es setzt schon sehr viel Talent voraus, mit einer solchen Selbstverständlichkeit Pop mit Disco, Trip Hop, Rock und Experimental zu mischen und immer noch das eigene Songwriting durchscheinen können zu lassen. Für U.S. Girls aber eine Leichtigkeit und so gibt es hier ernst voranschreitende und zugleich aufbrausende Stücke wie „Incidental Boogie“, verzweifelte Tanznummern wie „M.A.H.“ oder den abschliessenden Ausflug nach Nordafrika mit „Time“. Jedes Lied ist eine neue Facette, jeder Takt eine neue Reise. So wirken auch Annäherungen an Kate Buch oder Gwen Stefani („L-Over“) nicht anbiedernd, sondern zeigen auf, wie stark die weibliche Popmusik schon immer war.

U.S. Girls geht sogar soweit, dass sie Zitate der Neunziger („Pearly Gates“) nebst aktuelle und wichtige klangliche Forderungen stellt und dabei die Brücken gleich in mehrere Vergangenheiten und Möglichkeiten schlägt. Die Musik ist dabei immer intelligent und lädt nebst zur körperlichen Bewegung auch zur geistigen Betätigung ein. Wer sich in diesem Jahr also nur ein Pop-Album zulegen will, der sollte auf jeden Fall „In A Poem Unlimited“ kaufen. Denn vielfältiger, feinfühliger ausformuliert und treffender gibt es dieses Genre wohl sonst kaum – und Frau Remy passt doch wunderbar neben The Anchoress ins Regal.

Anspieltipps:
M.A.H., Rosebud, Time

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Dita Von Teese – Dita Von Teese (2018)

Lasziv auf dem Sofa räkelnd, in Seidenhemd und Spitzenunterwäsche, der Blick immer erotisch und die Lippe rot geschminkt – Dita Von Teese ist nicht erst seit Kurzem dafür bekannt, Sexualität stilvoll und genüsslich unter die Leute zu bringen. Dass die Amerikanerin nun aber plötzlich mit einem Album voller sinnlicher Popmusik in unser Leben tritt, das verwundert doch etwas. Sie ist zwar Model, Designerin, Autorin, Schauspielerin und Unternehmerin, mit Musik verband sie bisher aber wenig. Auftritt Sébastien Tellier, der französische Musiker suchte schon lange eine hübsche und einzigartige Frau für neue Kompositionen. Und genau das hat er bei „Dita Von Teese“ gefunden.

Und wie nicht anders zu erwarten, gibt es auf diesem Album nun elf Lieder, die zwischen verträumter Popmusik, an die Achtziger erinnernde Electronica und Kuschelverlockungen wechseln. Dita Von Teese hatte mit der Musik selber nicht viel zu tun, leiht aber jedem Stück ihre Stimme und versucht sich nebst wirklichem Gesang vor allem an gehauchten Wörtern, betörenden Aussagen und reizenden Bewegungen, die auch ohne Bilder plötzlich sichtbar sind. Alles wirkt zusammen immer etwas durchscheinend und ätherisch, als würde man dem Album in einem Traum begegnen. Leider zerpuffen diese Fantasien aber immer wieder dann, wenn sich Dita am Französischen versucht, wie bei „Parfum“ oder “ La Vie Est Un Jeu“.

Dass dieses Experiment (Burlesque-Star trifft auf weichen Dreampop) doch funktionieren kann beweisen Stücke wie „Rendez-Vous“ oder „Dangerous Guy“, welches sogar in den modernen R&B-Pop zielt. Und mit „The Lunar Dance“ wird am Ende noch die Disco in Unterwäsche gestürmt. Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Songs auch mit einer anderen Sängerin gleich gut (oder besser) funktioniert hätten. Dita Von Teese macht hier vor allem Werbung für sich selber und ihre Marke und gibt weniger eine berauschende Vorstellung als Frontfrau ab. Und Tellier ist Tellier, seine Musik ist nicht für jedermann.

 

Anspieltipps:
Rendez-Vous, Bird Of Prey, The Lunar Dance

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

C.A.R. – Pinned (2018)

Schepperndes Bassspiel, zurückhaltender Gesang und polyphone Synthiekreationen – Chloé Raunet hat sich für ihr neustes Projekt ganz klar ein Nest aus Versatzstücken des Post-Punk und der dreckigen Electronica gebastelt. Als C.A.R. (Choosing Acronyms Randomly) lässt sie nun mit „Pinned“ eine erste Sammlung an Liedern auf uns los, die gleich stark mit Wave wie auch alternativem Pop spielt. Und wer sich erst an die etwas kühle Herangehensweise gewöhnt hat, der findet so manchen Tanzmoment.

Denn wer sich mit dem Untergrund schmückt, der macht sich nicht immer leicht zugänglich, bringt aber die Grenzen und Mauern zum Bröckeln. C.A.R. ist sich dessen bewusst und formt Melodien und Takte zu Liedern, die gleichauf umgarnen wie misstrauisch machen. Der Opener „Growing Pains“ schmückt sich mit klaren Harmonien, „VHS“ im Gegensatz ist unheimlich und ätherisch. „Better Hide Your Daughters“ singt die Künstlerin lakonisch und macht aus dem Synthie-Pop eine Falle.

Nicht alles auf „Pinned“ macht gleich viel Sinn, wenn C.A.R. aber die stampfenden Beats auspackt und mit Sprechgesang „Random Words“ zu einem Ruf voller Verlockungen macht, dann erinnert dies nicht nur an Yello, sondern ist einfach nur toll. Mit ihrem Album landet sie also in der Schnittmenge der dunklen Szene und Knöpfchendreher – mit Musik, die immer vielseitig und überraschend ist. Mit einer solchen Künstlerin macht sogar „Cholera“ Freude.

Anspieltipps:
Growing Pains, Random Words, VHS

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Cry Electric – Synapses (2017)

Wer braucht schon Bühnen zwischen den Pyramiden, millionenschwere Filme oder eine Laserharfe um mitreissende Musik zu produzieren? Cry Electric aus dem Aargau geht nämlich mit seinen Tracks einen ähnlichen Weg wie Jean-Michel Jarre oder Vangelis, verfällt dabei aber nie dem Grössenwahn oder der blendenden Esoterik. Viel mehr ist seine Musik eine Verneigung vor Synthie-Grosstaten und ein buntes Spielfeld voller offener Grenzen. Das zeigt sich auch seinem dritten Album „Synapses“, welche zugleich ins All wie auch in die innersten Atome des eigenen Körpers entführt.

Aber genau dies war ja immer die Stärke der elektronischen Musik, das adaptive Wirken. In Tracks wie dem Titelstück oder „Shadows With No Dreams“ gleitet man zugleich durch die kleinsten Bausteine des Lebens, wie zwischen Pulsaren und schwarzen Löchern umher. Der Musiker Cristoforo Campa, geboren im Kanton Zürich, nutzt diese Bilder als Cry Electric um treibende Lieder zwischen Ambient, Dance und Electronica zu schreiben. Kompositionen wie „Impacting The Dream Of Living“ fühlen sich immer leicht und luftig an, die Beats schlängeln sich zwischen den Sequencern geschickt durch.

„Synapses“ findet dabei immer den Ausgleich zwischen tanzbaren Momenten und schwelgerischen Klangfabrikationen und Cry Electric lässt seine langjährige Erfahrung überall durchscheinen. Diese Scheibe ist somit die perfekte Alternative für alle Leute, welche von den grössen des Genres zu oft enttäuscht wurden und gerne in den klassischen Gebieten der Electronica schwelgen und sich in Flächen betten lassen.

Anspieltipps:
Shadows With No Dreams, Impacting The Dream Of Living, Synapses

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Ester Poly – Pique Dame (2017)

„Slutwalk“ räumt gleich einmal auf mit der Doppelmoral und dem überheblichen Getue gewisser männlicher Figuren. Somit ist von Anfang an klar, dass es hier nicht um liebliche Folgsamkeit sondern lärmige Positionsbestimmung geht – egal wie viele Experimente und Explosionen dazu nötig sind. Und Ester Poly wagen echt vieles auf ihrem ersten Album „Pique Dame“, wirklich verorten und definieren lässt sich ihre Musik nämlich nicht. Fest steht aber, dass dieses Duo (Martina Berther am Bass, Béatrice Graf am Schlagzeug) genau so lustvoll die Stilrichtungen mischt, wie frei improvisiert.

Seit 2013 musizieren die beiden Frauen zusammen und haben es nun endlich geschafft, als Ester Poly eine Platte zu veröffentlichen. Und was man darauf hören kann greift von Jazz-Rhythmen über scheppernde Punk-Bässe bis hin zu politisch und gesellschaftlich aktivistischen Texten. „La Vie En Rose“ ist eine perkussive Meditation, „Big Bang“ eine psychedelische Steigerung. Was jedes Lied auf „Pique Dame“ verbindet ist die raue und unverblümte Produktion, alles scheppert und kratzt. Schnell fühlt sich die Musik also so an, wie da Covermotiv daherkommt: Leicht absurd und mit gewisser Verletzungsgefahr.

Es ist nicht so leicht, aus dem Untergrund an die Masse zu gelangen, ohne sich selbst und seine Musik zu verleugnen. Ester Poly habe mit ihrem Debüt aber die Gratwanderung geschafft und zeigen hier Lieder, die wild und verständlich zugleich auftreten. Dank langjähriger Erfahrung und viel Talent gelingt es dem Duo aus Chur und Genf, auch merkwürdigste Anwandlungen greifbar zu machen und in lauten Momenten wie „The Rise Of The Witches“ zu brillieren. Für alle die sich immer wieder gerne überraschen lassen, ist „Pique Dame“ eine schier unendliche Fundgrube.

Anspieltipps:
Slutwalk, La Vie En Rose, The Rise Of The Witches

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.

Neutral Zone – Hogofogo (2017)

Die Verbindung zwischen dem Takt von „Led73“ und der Kadenz eines gemütlichen Fahrradausfluges ist doch genau so sonnenklar, wie die Schnittmenge von Neutral Zone und Kraftwerk. Zwar ist die Band von David Langhard in Winterthur beheimatet und reist nicht so oft um die Welt wie die deutsche Legende, mit seinem fünften Album beweist der Künstler aber, dass Grosstaten auch hierzulande aus den Synthies purzeln. Und das sollte spätestens mit dem grossartigen dritten Track „Space Travel“ auf „Hogofogo“ allen klar sein.

Denn was hier Bässe, Keyboard und Vocoder-Stimmen zusammen kreieren, ist ein tanzbares Stück Weltall mit Krautrock-Schwaden und Electronica-Ahnen. Neutral Zone schnallen ihre Klappergestelle auf die nächste Rakete und landen von diesem Höhenflug erst am Ende der Platte. Man spürt die Erfahrung der letzten 20 Jahre in jedem Track, Langhard hat gut aufgepasst und nicht nur seine Band aufgestockt, sondern den analogen Synthie-Pop neu belebt. Ob dies nun herrlich polyphon blubbern darf, oder sich lieber mit tiefen Bässen durch die Landschaft pflügt – alles passiert im knackigen Songformat.

Sicherlich, gewisse Momente würde man auch gerne in stundenlangen Wiederholungen geniessen, aber Vielseitigkeit und Experimentierfreude sind schliesslich gewinnbringende Bestandteile von „Hogofogo“. Wer also schon immer etwas traurig war, dass die grossen Namen von damals keinen Elan mehr an den Tag legen, der wird mit dem neusten Werk von Neutral Zone mehr als glücklich werden. Und nicht wenige werden nach diesem Genuss wohl selber an einem Synthie (oder Fahrrad) herumschrauben.

Anspieltipps:
Led73, Space Travel, Cycling Champion

Dieser Text erschien zuerst bei Artnoir.